シュミットは日本にいるよ。

Ich bin bis September 2007 als Student in Japan und verfolge das ambitionierte Vorhaben, was ich erlebe, festzuhalten und zu schreiben, was ich mir dabei denke. Macht dieser Satz Sinn? Wohl kaum, und gleichzeitig zeigt er, was ich mir vorgenommen habe, naemlich Sinn zu finden, wo zunaechst erstmal keiner zu sehen war. Vielen Dank fuers Lesen, ich weiss es ist manchmal schwer. Zum Glueck weiss keiner wie es in meinem Kopf aussieht...

Donnerstag, Oktober 26, 2006

In der Freizeit steht der Spaß an erster Stelle


Es gibt verschiedene Wege, als ausländischer Student Japaner an der Uni kennenzulernen. Entweder man nickt sympathisch, lächelt leicht und geht auf Leute zu, die meistens sofort wie versteinert stehenbleiben. Natürlich ist das ein bisschen gemein, zumal vorsichtshalber niemand davon ausgeht, dass man Japanisch spricht, sei es auch nur, um beim ersten korrekt konstruierten Satz Lobeshymnen zu singen. Und es sprechen ja nicht alle Studenten Englisch, auch wenn fast alle es sechs oder sieben Jahre lang in der Schule gelernt haben. Eigentlich stimmt das so aber auch nicht, denn was die meisten lernen, ist Englisch lesen und auf Japanisch übersetzen. Und das wars auch schon. Grammatik und jegliche Form von Sprechpraxis bleiben dabei meist auf der Strecke. Auf die Frage, wie lange man denn schon Englisch lerne, antworten die meisten Studenten: Seit sieben Jahren, aber mit Sprechen erst seit zwei Jahren. Klingt für mich nach Lateinunterricht in Deutschland, tote Sprachen spricht man schließlich nicht.
Für den Durchschnittsausländer wie mich ist das dennoch praktisch, denn wenn ich mal ein Wort auf Japanisch nicht weiß (und ich kann nicht behaupten, dass das gerade selten der Fall ist), sage ich es auf Englisch, was dann auch umgehend mit verständigem Nicken begrüßt wird.
Im Gespräch mit Englisch-Studenten hat man meist schneller einen neuen Eintrag im Handy-Telefonbuch als man bis drei zählen kann. Geschichts-Studenten hingegen ergreifen in der Regel möglichst schnell die Flucht, sich für ihr schlechtes Englisch entschuldigend, obwohl die Unterhaltung ja in meinem gebrochenen Japanisch stattgefunden hat.
Das ist nun, wie angedeutet, eine Möglichkeit der Kontaktaufnahme. Eine andere ist, sich an einen Ort zu begeben, an dem sich Studenten mit ähnlichen Interessen in gemütlicher Atmosphäre treffen, um genau diesen Interessen nachzugehen – in den sogenannten Clubs. Dies sind Gruppen, die sich kulturellen oder athletischen Disziplinen widmen, diese aktiv ausüben und von Studenten geleitet werden. Vorkenntnisse sind nicht unbedingt benötigt, und das Angebot ist reichhaltig: Von Aikido bis Teezeremonie, über Windsurfing, Bogenschießen, Kendo, Modern Jazz, Ikebana (Blumenarrangement) und Bibellesen ist alles dabei. Entsprechend erfasste mich auch die Begeisterung bei Durchblättern des Club-Verzeichnisses. Und verließ mich auch gleich wieder beim Anblick der Trainingszeiten. Gerade sollte meine Judo-Karriere beginnen, da musste ich doch realistisch eingestehen, dass montags bis freitags 18-20 Uhr und samstags von 13 bis 16 Uhr etwas viel erschien. Zumal ich ja auch 32 Wochenstunden Uni-Klassen habe und täglich bis in die Nacht versuche, meine Hausaufgaben wenigstens bis zur Hälfte zu erledigen. Einziger Wermutstropfen: Judo ist schon unter den Ausnahmen, die meisten Clubs treffen sich nur fünfmal pro Woche. Juhuu.
Also habe ich mir was neues überlegt, und bin mit Bryan, der Schlagzeug in Washington studiert, ins Musikgebäude gegangen, um Informationen über Übungsräume einzuholen, denn dann könnte ich ja wenigstens ein bisschen Flöte spielen, was ja aus Gründen der Bausubstanz in meinem Apartment wohl eher hasserfüllte Gesichter meiner Nachbarn herbeizaubern würde. Wir haben also Bryan ein Klavier gefunden, und auf die Frage, ob ich eine Flöte leihen könnte, sagte man mir, dass ich dafür dem Orchester-Club beitreten müsste, dort könnte man mir ein Instrument geben. Orchester-Club? Erneute Begeisterung, jedoch diesmal von Beginn an etwas gedämpft, denn im Orchester flöten ist ja schön, aber zwölf Stunden pro Woche...? Die Dame am Empfang wusste nichts genaueres, bat mich aber, die darauffolgende Woche wiederzukommen, sie würde sich in der Zwischenzeit erkundigen. Gesagt, getan, pünktlich am Freitag der Folgewoche war ich an gleicher Stelle und war sogleich schlauer als zuvor: dienstags und donnerstags, 18 Uhr. Das klang doch vielversprechend, da menschlich.
Als nächstes war dann zur Abwechslung mal nicht ich mit Begeisterung erfüllt, sondern die Leiter des Clubs, als wir einige Tage später unserer Interesse bekundeten. Ich war auch erstmal vorsichtig, „habe seit vielen Jahren keinen Unterricht gehabt“... „habe in den letzten zwei Jahren auch nicht besonders viel gespielt...vielleicht ist das doch etwas zu schwer, gleich im Orchester und so...“
Was ich denn nun denken würde, fragte man mich, es ginge ja schließlich nicht darum, irrsinnige Musik zu produzieren, sondern nur um den Spaß bei der Sache, man genießt das gemeinsame Musizieren usw usf. Ich könnte natürlich auch ein anderes Instrument spielen, wenn ich interessiert bin, die Uni besitzt genug davon. Ja klar! Cello, bitte, und Klarinette, dachte ich mir. Ich könnte das schließlich mal schnell lernen. Der Haken bei der Sache: Das nächste Konzert findet am 2. Dezember und unter anderem stehen Beethovens Siebente und Brahms Tragische Ouvertüre auf dem Programm. Mmmh...
Sechs Wochen von meinem ersten Gehversuch mit dem Cello bis Beethovens tadatatam?
Folgendes stellt sich heraus: Japaner haben eine andere Vorstellung von Spaß. Ich behaupte, dass ein Orchester in Deutschland, das nur so zum Spaß spielt, Stücke wählen würde, die man mal eben vom Blatt spielt und für die man sein Instrument nicht notwendigerweise außerhalb der Probenzeiten berühren muss. In Japan jedoch ist mal wieder alles anders. Hier heißt Spaß beim Musizieren 12 Stunden in der Woche Tonleitern und Beethovens Sextolen in der dritten Oktave bei 160 Schlägen pro Minute spielen. Natürlich schön entspannt. Spaß scheint auch vor allem durch die völlige Hingabe und Konzentration auf eine Sache zu entstehen, so lange bis Beethoven und Brahms in meinen Träumen gemeinsam Kuchen backen und bei mir im Unterricht sitzen und nach dem japanischen Ausdruck für „Verlust der Sprachfähigkeit durch exzessives Musizieren“ fragen.
Unter diesen Umständen schien es nicht der logischste Entschluss zu sein, Orchestermitglied zu werden, aber wann hat jemals Vernunft mein Handeln bestimmt?
Die gute Nachricht ist: Für das Dezember-Konzert waren bereits alle Flöten-Stimmen besetzt (der Etikette angemessen, habe ich diese Nachricht freilich mit Bedauern, aber unterwürfiger Akzeptanz, und innerlichen Freudentänzen aufgenommen). Die schlechte Nachricht ist: Am dritten und vierten November ist Gakuen Matsuri (Schulfest), wo einen ganzen Tag lang verschiedene Ensembles des Orchesters einzelne Stücke spielen. Das ist natürlich gar nicht schlecht, sondern gar herrlich. Jedoch: Ich bin in Abwesenheit zum Mitglied der Big Band erkohren worden und spiele angeblich nächsten Freitag zwei Stücke, von denen ich die Noten vor zwei Tagen erhalten habe und die schneller und höher sind, als alles was ich jemals gespielt habe. Bei der ersten Probe habe ich also stumm gespielt und wild mit den Fingern geklappert, wie man das von mir erwartet hat, ist ja schließlich alles nur zum Spaß. Beim Hören von Chiyuki, die auch die erste Stimme spielt, kamen mir dann doch innerlich die Tränen. Zumindest weiß ich nun, wie es sich anhören soll. Die japanische Standardreaktion auf die Erwähnung der eigenen, an Wahnsinn grenzenden Verzweiflung angesichts der eigenen Unfähigkeit ist natürlich „Ganbatte“ (durchhalten!). Schön und gut, nur leider heißt „durchhalten“ in diesem Kontext nicht Flötenspiel-Imitation bis zum Ende des Konzertes, sondern fehlerfreies Spiel bis zum Ende des jeweiligen Stückes. Morgen ist wieder Probe, und irgendwie bedaure ich nicht, dass ich keine Baldrian-Tropfen in meiner Reiseapotheke habe. Aber was rede ich nur, ist ja alles nur zum Spaß... ich lege mich jetzt besser mal schlafen, bekomme schon wieder Herzrasen vor lauter Spaß.

Dienstag, Oktober 10, 2006

Sprachlos


Gibt es einen Ausdruck für so etwas wie eine „Lügesucht“? D.h., eigentlich ist es keine Lügesucht, unter der ich leide, sondern vielmehr Lügezwang, der erwächst aus einseitiger Sprachlosigkeit und der Rhetorik der japanischen Sprachgemeinschaft, die außer Japan vielleicht noch Düsseldorf einschließt. (An dieser Stelle einen herzlichen Gruß an die Immermannstraße). Mit Sprachlosigkeit meine ich, dass ich mich selbst dafür bewundere, mit welcher Eloquenz ich es bereits schaffe, auch die abenteuerlichsten Fragen auf Japanisch zu formulieren. Etwa: „Wenn ich mein Fahrrad bei der Polizei registriere, und dann gestohlen melde – was passiert mit demjenigen, der es fahrend gefasst wird?“ Die Antwort ist: Ich habe keine Ahnung, was die Antwort ist. Und das meine ich mit einseitiger Sprachlosigkeit. Die ersten und letzten Worte eines Satzes schaffen meine Ohren meist noch zu dekodieren, was ausreicht, um eine genrelle Stimmungsanalyse des Gesprächspartners durchzuführen, aber der Teil des Satzes, der bestimmt ist, mir die entscheidenden Informationen zu vermitteln, versinkt in einem Sumpf kryptischer Laute. Das ist die eine Seite der Sprachlosigkeitsmedaille. Die andere hat damit zu tun, das ich mich oft nicht traue, nachzufragen. Das beruht darauf, dass ich einerseits Menschen, die ich anspreche, ja ohnehin schon genug ihrer Zeit raube, und außerdem neigen Japaner dazu, sich unwohl zu fühlen, wenn sie merken, dass ich nur schlecht folgen kann, sie selbst aber nicht gut genug Englisch können, um mir zu antworten. Dann fangen sie an, sich dafür zu entschuldigen und frenetisch zu verbeugen, und wir gehen letztendlich auseinander mit dem Gefühl meinerseits, dass ich gerade mal wieder den Tag einer bis dahin glücklichen Person auf ignoranteste Art atomisiert habe. Nach einer kurzen Feldforschungsphase in verschiedenen öffentlichen Stellen und Büros habe ich mir daraufhin die Fähigkeit angeeignet, so zu tun, als verstünde ich jedes einzelne Wort Japanisch noch bis in die kleinste, verschluckte Silbe am Satzende. Häufiges Nicken, gekoppelt mit „hai“(ja), „soo desu ka“ (achso?) und dem obligatorischen „wakarimashita“(ich habe verstanden) am Ende führen zu fortan sozial verträglichen Konversationen von solcher Authentizität, dass ich manchmal ganz vergesse, dass ich gar nichts verstehe. Ich gehe dann glücklich und beschwingt meines Weges und fühle mich interkulturell kompetent. Nur bei Wegbeschreibungen bin ich vorsichtig: Natürlich warte ich erst ab, bis mein Lügenzwang-Opfer außer Sichtweite ist, damit er oder sie nicht sehen kann, dass ich in die falsche Richtung laufe und sich Vorwürfe macht, eine schlechte Beschreibung gegeben zu haben. Das dürfte natürlich eigentlich nicht vorkommen, da Gesten innerhalb von Wegbeschreibungen ja doch ziemlich universell funktionieren. Zumindest schließe ich aus, dass ein geradeaus ausgestreckter Arm heißen könnte „Egal was sie tun, gehen sie auf keinen Fall geradeaus.“ – „Hai, wakarimashita“, sagte er und lief geradewegs ins Verderben... Soweit sollte es doch nicht kommen, außerdem bin ich ja schlau genug, für Wegbeschreibungen Leute anzusprechen, die mindestens eine Hand frei haben.
Einen gewissen Vorteil hat meine Inkompetenz aber auch: Zum ersten Mal realisiere ich, wie viel unwichtige Informationen wir uns den ganzen Tag anhören. Als ich zum Beispiel im Rathaus meine „Alien Registration Card“ (die heißt wirklich so, ich bin offiziell ein Alien) beantragt habe, die Ausländer zu jeder Zeit bei sich tragen müssen, hat der zuständige Sachbearbeiter für ungefähr sechs Minuten gar nicht mehr aufgehört zu reden. Ich habe nickend und hai sagend dagesessen und vor mich hinüberlegt, was er wohl noch wichtiges sagen könnte, außer dem Abholdatum für die Karte und der Tatsache, dass ich sie immer mit mir tragen muss – was im übrigen beides in Englisch auf der Durchschrift des Antragsformulares steht. Außerdem habe ich mich gefragt, ob ich auf dem Nachhauseweg wohl an meinem Standard Ramen-Restaurant essen soll oder doch noch was einkaufe, und ob die abschraubbaren Kappen meiner Zimt und Zuckerfläschchen wohl in den gelben Sack für brennbaren, oder den grünen Sack für nicht brennbaren Müll gehören. Das wiederum führte zu dem Entschluss, doch mal wieder Milchreis zu essen. Es lebt sich schon irgendwie leicht, wenn man unbewusst weiß, dass man die wirklich wichtigen Dinge wohl schon irgendwie mitbekommen wird, aber mit dem ganzen Rest gar nicht weiter belastet wird. Meine Wasserrechnung zum Beispiel. Der Betrag steht fein säuberlich in arabischen Zahlen am Ende, und auf welcher Grundlage dieser errechnet wurde? Nun ja... wird schon stimmen, schließlich bin ich in Japan, und außerdem: Meine Beschwerde würde auch nicht besonders weit gehen: „Da stimmt was nicht mit meiner Wasserechnung, ich glaube, Sie haben mir zuviel berechnet.“ „Ah, chotto matte kudasai (Einen Moment bitte). Iuhsdfvguibhaegozaimasu. ouafahgudrhngbodihagkudasai.kusghaeurhuerbitadakemasenka.uhigveoruvhboighedesu.“ „Hai, wakarimashita. Arigatoo gozaimasu (Vielen Dank).“ Dann würde ich leicht verbeugen, umdrehen und gehen, nach Hause fahren und ausgiebig heiß duschen, da ich ja eh nur ein Wurm in den Händen der Wasserwerke bin und es alles nichts ändert.
Nach Hause fahre ich übrigens mit meinem günstig erstandenen Damenfahrrad mit praktischem Einkaufskorb, dass natürlich auch bei der Polizei registriert ist. In Wirklichkeit war die ganze Fahrradnummer nämlich nur ein Aufhänger für diese Episode. Ausländische Fahrraddiebe kommen nämlich zuerst einmal in die Zelle des örtlichen Polizeiamtes und werden bei ungünstiger Beweislage ausgewiesen und dürfen für immer auf Wiedersehen zu Japan sagen. Und nur, weil ein Fahrrad drei Wochen unangeschlossen an der Straße steht, heißt das noch lange nicht, dass es niemandem gehört, viele Räder hier haben gar keine Schlösser.Darauf hatte man uns aber auch schon am ersten Tag an der Uni hingewiesen – auf Englisch. Wakarimashita. Ganz ohne Lügen.

Montag, Oktober 02, 2006

Wo es hoch geht, geht es auch runter.


Tokyo ist ja eine große Stadt. London auch. Und Mexico City. In London verläuft man sich aber nicht so leicht, aus mehreren Gründen: 1) es gibt Straßennamen, 2) zwischendurch findet man immer wieder historische Gebäude, die auf den Touristen-Stadtplänen wie kleine 3D-Modelle ihrer selbst gedruckt sind, 3) man bewegt sich überwiegend oberirdisch und kann so zumindest raten, wo man wohl ist. Mehr fällt mir gerade nicht ein. Punkt 2) kann man natürlich nur eingeschränkt gelten lassen, schließlich können ja die Japaner nichts dafür, dass Tokyo 1923 von einem Erdebeben fast völlig zerstört wurde. In den folgenden sieben Jahren entstanden 200.000 neue Gebäude, (leider) überwiegend nach westlichem Vorbild. Ich wiederhole das nochmal: In sieben Jahren entstanden 200.000 Gebäude. Das sind über 75 Gebäude pro Tag, 7 Jahre lang. Muss ich daran erinnern, dass vor gar nicht langer Zeit viele Leute völlig aus dem Häuschen waren, weil Berlin als die größte Baustelle der Welt galt? Natürlich nur im Einzugsgebiet deutscher Tageszeitungen, sonst hätte das wohl jemand berichtigt.
Dass es in Japan keine Straßennamen gibt, ist mittlerweile wohl auch hinreichend bekannt, also schnell zu Punkt drei, meinem persönlichen Lieblingspunkt.
Wie gesagt, ich war mit Alan, Brian und Emily, die mit mir hier studieren, unterwegs, und nach der Schreinbesichtigung wollten wir noch was essen (haben wir auch) und dann noch zu Kinokuniya, dem berühmten tausendgeschossigen Buchladen, der eine ganze Etage voller ausländischer Bücher hat (Wie viele Geschosse es genau sind, weiß ich nicht mehr, aber ich glaube acht). Und Zeitschriften – der Spiegel kostet 13 Euro. Schade. Wir wussten jedenfalls noch, dass Kinokuniya ziemlich nah beim einem der Ausgänge vom Bahnhof Shinjuku sein soll. Einer der Ausgänge heißt einer von tausendmillionen Ausgängen, die unterirdisch miteinander verbunden sind. Wir kamen uns eher vor wie der Minotaurus im Dädalus’schen Labyrinth. Nachdem wir eine Dreiviertelstunde im Kreis gelaufen sind durch endlose Gänge mit Geschäften und Schnellrestaurants, habe ich unbewusst nach Schildern Ausschau gehalten wie „NARITA AIRPORT – 85km“, oder OSAKA, 500km, PLEASE KEEP LEFT“.
Übrigens sind die Japaner viel konsequenter mit ihrem Linksverkehr als die Briten. In England, etwa, läuft man zwar auch links, auf Rolltreppen steht man aber rechts. Mmmh. Logisch... Nicht so bei den Japanern, natürlich ist hier die linke Rolltreppenseite die langsamere, ergo, die, auf der man steht. Problematisch wird es erst, wenn man versucht, rechts zu überholen, denn alles was nicht als Auffangbecken für Menschenmassen dient, ist ja grundsätzlich klein und schmal. So auch Rolltreppen.
„Hey, sind wir am dem Nudelladen nicht schon vorbeigekommen?“ „Nein, das war nur die gleiche Kette, die haben vier Filialen oder so im Bahnhof.“ Na klar, wie in Hannover, viermal Gosch, viermal Burger King, viermal Telekom... d.h., der Telekom wäre das schon zuzutrauen, sind ja immer verschiedene Sachbearbeiter für jeden Quadratmeter in Deutschland, immer alles schön dezentral. Deswegen liefs auch so gut mit der Aktie.
Erschwerend kam nun hinzu, dass es in japanischen Bahnhöfen ungefähr so viele Karten wie Mülleimer gibt. Einen für jeden millionsten Reisenden pro Tag – das macht zwar vermutlich immer noch hunderttausend, aber Shinjuku ist ja groß, wie erwähnt. Wir haben dann auch immer wieder mal Karten gefunden. Aber erst nach der fünften habe ich das fiese Verwirrungssystem durchschaut: die Karten rotieren nämlich stetig. Ist ja auch langweilig, immer Norden oben. „Lass mal was neues machen, Norden ist jetzt mal unten links. Yeah, das rockt!“ Ich muss ja zugeben, witzig ist es doch schon, vier ausländische Studenten mit giraffenartig verrenkten Köpfen in einer U-Bahn-Station, todesmutig im Menschenstrom ausharrend, der völligen Erschöpfung ziemlich nahe.Zum Glück gibt es ja noch die Technologie, mit Handys kann man hier nämlich nicht nur Zugtickets kaufen und Fernsehgucken, sondern auch telefonieren und via GPS den eigenen Standort ermitteln. Dann muss man nur noch die in einem Barcode verschlüsselte Adresse des Zielortes mit der Handykamera abscannen und schon sieht man sich als kleinen Stern auf einer Landkarte auf dem Handydisplay, von dem aus eine Schnur den Weg weist, auf alle McDonald’s, Polizeiboxen und Krankenhäuser unterwegs hinweisend. So haben wir dann auch Kinokuniya gefunden, nur um festzustellen, dass die Entfernung zum Zielort noch genau 45 Meter betrug. War also gar nicht so kompliziert. Komplizierter war es, auf dem Rückweg durch Shinjuku wieder die richtige Linie zu finden. Ist uns dann auch geglückt. An dem Abend sind wir alle ziemlich früh eingeschlafen.

Was ist eigentlich Perfektion?


Ich war in Tokyo. Das heißt: offiziell wohne ich ja in Tokyo. Steht so zumindest in meiner Adresse. Ich war also in der Innenstadt. Genauer gesagt: ich habe mich mit Alan, Brian und Emily in Shinjuku verlaufen. Das war aber später. Erstmal waren wir in Harajuku und haben kospure- angeguckt. Das steht für cosplay, was wiederum für costume play steht und bedeutet, dass sich Manga- und Animefans so anziehen wie ihre Lieblingscharaktere. Dank der sensiblen und vorurteilsfreien Medienberichterstattung in Deutschland denkt man dort ja weithin, dass eigentlich alle Japaner in abgefahrenen Comic-Klamotten rumlaufen. Oder wie die Geisha in dem Film. Und dabei essen sie den ganzen Tag rohen Fisch. Ich sage da erstmal nichts zu.
...(Leere)...
So. Nichts gesagt.

Gibts auch gar nichts zu zu sagen. Stimmt nämlich nicht. Ich kann ja auch nichts sagen zu Deutschland als ehemaligem Mitglied der Sovjetunion, Deutschland war ja nie in der Sovjetunion. Glaube ich zumindest. Aber genug meiner Weisheiten und zurück nach Harajuku, das ist gleich neben Shinjuku und dort treffen sich die cosplayer sonntags. Außerdem ist dort der der Yoyogi-Park und in ihm der Meiji-Jingu-Schrein, den man, wie alle Schreine, erst betritt, nachdem man sich am Brunnen vor dem Tore die Hände und den Mund gewaschen hat. Haben wir gemacht und sind dann rein. Da wurde mächtig viel geheiratet an dem Tag. An jeder Ecke eine Gesellschaft, die unbewegt ausharren musste für die Schar von Fotografen und Arrangeuren, die in Detailarbeit jede Falte im Kimono richtig gelegt haben. Ist vermutlich fast wie Modellsitzen für einen Holzschnitt, ziemlich langwierig. Einige Touristen haben wohl auch gedacht, das es sich um Hochzeitsgesellschaftsfiguren aus Pappmarche wie in einem open-air Museum handelte.
Folgende Situation: Ein russisches Pärchen nähert sich der beschriebenen Hochzeitsgesellschaft, wohlgemerkt den dazugehörigen roten Teppich benutzend. Hände in den Hüften, betrachten sie das Geschehen eher emotionslos. Sie sprechen kurz, dann positioniert sie sich etwa zehn Meter von der Pappmarche-Familie, die durch energisches Haarnadelstecken der visuellen Perfektion noch näher gebracht wird.
Er spricht: „Hier steht Mascha vor einer traditionellen japanischen Hochzeitsgesellschaft.“
Das behaupte ich jetzt natürlich nur, ich verstehe ja gar kein Russisch, „Mascha“ habe ich aber gehört.
Dann hat er nichts mehr gesagt und irgendwann nur noch die Kamera gegen eine Digicam getauscht. Dann hat er auch die Digicam eingepackt, und sie haben noch die Situation ausgenutzt (wann steht man schon mal auf einem echten roten Teppich?) und eine Tokyo-Karte ausgiebig studiert, mit lebhafter Diskussion.
Hier ist noch mein Vorschlag für die Videomoderation statt des frei übersetzten Hier steht Mascha vor einer traditionellen japanischen Hochzeitsgesellschaft.
„Tokyo, Harajuku. Für diejenigen japanischen Familien, die es sich leisten können, gehört eine traditionelle Hochzeitszeremonie im berühmten Meiji-Jingu-Schrein zum guten Ton. Anwesend sind nur die engsten Verwandten. Daher kommt dem dokumentarischen Teil des Tages auch größte Bedeutung zu. Schließlich dienen Fotos hier nicht nur als bloße Erinnerung, sondern vor allem als Möglichkeit, den Abwesenden das Ereignis zumindest visuell näher zu bringen. Maskenbilder, Friseure und Fotografen, auch eine hauptamtliche Insektenfernhalterin arbeiten konzentriert auf das perfekte Bild hin. Jede kleinste Bewegung könnte das Werk zerstören, bewegungslos harren die Delinquenten mit gemeißelten Minen und geduldiger Disziplin aus. Die exquisite Kleidung erinnert an Staatsereignisse. Haut und Kimono der Braut leuchten seidenmatt und kirschblütengleich im sanften Licht des Sonntagmittags.
Und hier ist Mascha. Eine Hand in ihren Kaki-Shorts, blaues Träger-Top und Outdoor-Sandalen. Praktische, mittellange Frisur; erfordert kaum Zeit am Morgen. Sie steht still und ausdruckslos in direkter Linie vor der Braut. Aber sie ist nicht bewegunslos.
Sie kaut Kaugummi. Mit offenem Mund.
Weiter zum Sport“So hätte es sein können, aber ich weiß ja auch gar nicht, was aus den beiden geworden ist. Schließlich sind wir kurze Zeit später in Shinjuku verloren gegangen. Da gehts jetzt weiter.

Das Geheimnis ewiger Jugend

Die erste Nacht habe ich dann in einem Hotel in Flughafennähe mit allen Programmteilnehmern verbracht, die ebenfalls am 12. angekommen sind. Bei Ambience-Vogelgezwitscher aus den Deckenlautsprechern. Macht ja auch Sinn. Schließlich konnte man die Fenster nicht öffnen. Außerdem habe ich das gelernt und live erlebt, was ich schon vorher wusste und viele andere vor mir beschrieben haben. Japaner sehen nämlich gar nicht halb so alt aus wie sie sind, weil sie sich so gesund ernähren und das Wasser weicher ist. Nein, nein, in Wirklichkeit machen sie es nämlich wie Jabba the Hood in Star Wars mit Han Solo: Sie frieren sich nämlich selber ein. Klimaanlagen scheinen nämlich nur über zwei Einstellmöglichkeiten zu verfügen: off und ***** Ultra-Polar-Modus. Und damit man nicht ganz starr wird, muss man sich natürlich die ganze Zeit bewegen. Das wiederum hält schlank und ist gut für das Herzkreislaufsystem. Außerdem erklärt es, warum es in Bahnhöfen niemals Sitzgelegenheiten gibt. Wobei, ein anderer Grund ist wohl, dass nicht genug Platz zum Sitzen wäre. Die ungewohnte, von nicht-japanischen Neulingen permanent erfahrene Konsequenz ist freilich die, dass es praktisch unmöglich ist, jemals stehen zu bleiben. Keine Winkel und Ecken, die nicht auch vom Menschenstrom ausgespült würden. Keinerlei Inseln, auf denen der im Menschenmeer gefangene Zuflucht suchen kann: Keine Mülleimer, keine Sitze, nur manchmal Säulen, die aber rund sind, und um die in alle Himmelsrichtungen herumgegangen wird. Mit der Herausforderung wächst aber auch der Einfallsreichtum: Nicht nur einmal bin ich in Fotoautomaten geflüchtet, ohne jede Absicht, mein orientierungsloses Angesicht zu verewigen. Und es gibt in der Tat einen einzigen sicheren Ort, um den Streckennetzplan in Bahnstationen zu lesen: Die Schlange an den Ticketautomaten. Obwohl ich also Karten für alle Zuglinien besitze, habe ich ungezählte Male in fast krimineller Manier die Absicht eines Einzelfahrscheinerwerbs heimtückisch vorgetäuscht, um einfach mal zu stehen und in Erfahrung zu bringen, wo ich eigentlich bin. Viel Zeit bleibt aber nicht: Maschinen, die in Japan etwas verkaufen (und das sind viele), haben Ware und Wechselgeld rausgegeben, bevor der Finger den touch screen überhaupt verlassen hat, auf dem nicht selten eine Kameraaufnahme zu sehen ist, die Auskunft darüber, was gerade im Maschineninneren passiert. Ich sag mal so: Es gibt immer was anzugucken. Ist ja auch gut so. Alles andere wäre Zeitverschwendung, und die macht alt und gibt Falten. Die will ja keiner.

Check-in oder cheque-in?

Nachdem ich eine gute Woche lang meine Zeit damit verbracht hatte, Hosen und Maniküre-Sets abzuwiegen, um wenigstens irgendwo der großzügigen Frachtgrenze von 23kg näher zu kommen, musste ich einmal mehr feststellen, dass nicht mehr nur Goldbarren und Diamanten einen direkten Gewichtsgegenwert besitzen, sondern auch Stromadapter, Socken und Duschgelflaschen in Reisegröße. Für diejenigen unter den Dingen des täglichen Gebrauchs, die es wagen, nach Japan reisen zu wollen, liegt er bei ca. 32,86 pro Kilo. Wohlgemerkt: Britische Pfund, nicht etwa Erbsen und Möhren. Nun ja, was soll ich sagen, nach guten zwanzig Minuten kaltschweißerregender Konversation mit einem BA-Mitarbeiter, der ungenannt bleiben möchte, hat sich letztendlich der zunächst veranschlagte, mit größtmöglicher Kulanz errechnete Gepäckzuschlag von 268,00 EURO dann doch auf 0,00 EURO reduziert. Halbe Sachen macht man ja nun auch nicht. Das wäre ja wie British Airways ohne British. Und das wiederum wäre ja wie British Airways ohne fried breakfast. Das gab es dann nämlich eine Stunde vor der Landung in Narita. Dem Leser sei versichert: Leichte Scham überkam mich dann doch angesichts wässrigen Rühreis, umgeben von 75% japanischen Passagieren, die aus einem Land stammen, in dem entschlossene Menschen 12 Jahre lang Schüler sind, um dann mit zeremonieller Perfektion Tee zubereiten zu können. Ich habe jedenfalls schneller gegessen als sonst, aber darauf verzichtet, vermeintlich nebenbei darauf hinzuweisen, dass ich ja gar nicht Engländer bin. Lecker wars trotzdem. Habe ich aber nicht zugegeben.